Rote Fäden fliegen durch den Raum. Holzbalken haben ihren festen Stand verloren, schweben im Unbestimmten. Ein allsehendes Auge lugt zwischen zersplitterten Geometrien hervor. Eine Welt in Auflösung, jeder Halt ist hinüber. Was auf den neuen Bildern von Grigori Dor als vermeintlich harmlose Pop Art erscheint, birgt den subkutanen Schrecken. Die Ölbilder Dors, mit virtuoser Schichtentechnik gemalt, präsentieren eine spiegelglatte Oberfläche, perfekt inszenierte Räume.
Eindrucksvoll fragmentierte Splitter von Dingen tauchen auf, verschwinden wieder, können in ihrer Bruchstückhaftigkeit mehr erahnt als erkannt werden. Die Welt als Ganzes, die einheitliche Vision des Wahren, Schönen, Guten ist zerbrochen. Übrig geblieben sind vereinzelte Fragmente. Mit verführerischer Schönheit locken sie den Betrachter. Ihre Herkunft jedoch geben sie nicht preis.
„Stillleben“ betitelt Dor die meisten seiner Tafeln. Tatsächlich negiert er mit dem Aufbau der Bilder, dem Arrangement der Gegenstände und der kubistischen Brechung des Bildraumes alles was aus klassischen Stillleben bekannt ist. Das Stilleben: eigentlich ein Genre der – eben – stillen Besinnung. Geschaffen einerseits um durch Gewichtung, Aufbau und bedächtige Malweise dem Betrachter eine ebenso kontemplative Ruhe wie dem Maler zu verschaffen. Andererseits dem Käufer des Tableaus das wohlige Gefühl zu vermitteln, er erwerbe mit dem Bild auch ein angemessenes Objekt, um seinen Wohlstand zu spiegeln. Hier jedoch setzt der Künstler die bekannten Rezeptionsmuster der Genremalerei teils außer Kraft. Und bestätigt er sie dann aber doch wieder, wie durch die Hintertür. Denn trotz allem brillanten Realismus, mit dem Dor seine Bilder konstruiert, und den Bildraum auflöst, sprengen seine bildnerischen Dekonstruktionen das Bekannte nicht. Die Spähre der kapitalistischen Dingwelt, aus der einige der abgebildeten Fragmente stammen, bleibt letztlich unangestastet, wird aber kommentiert.
Dor spielt mit dem Raum, den Elementen, der Zergliederung des offensichtlichen Scheins. Es sind Reflexionen einen intelligenten Malers. Geschickt jongliert Dor mit bildnerischen Referenzen, extrapoliert Sinnsphären aus bruchstückhaften Körperfragmenten. So widerlegt er aufs Neue den blasphemischen Spruch des altvorderen Schachspielers Marcel Duchamp von den „dummen Malern“. Duchamp war enttäuscht von der romantischen Verklärung der Impressionisten und gelangweilt von der pseudorevolutionären Attitude der Kubisten. Er negierte die Möglichkeit, mittels der Malerei überhaupt zu anderem als der Flachware entsprechenden, eben flachen, Wahrheiten zu gelangen. Dor hingegen zeigt, dass auch zweidimensionale Bilder eine Tiefe entwickeln können, die aus dem zweidimensionalen Raum in die Spähre der sozialen Konnotationen des Dargestellten führen und die dennoch nicht plakativ sind.
Es ist eine ambivalente Welt, die sich auf den Bildern Dors darbietet: weißblättrige Blütenkelche, die sich prächtig entfalten, Blütenstängel, die in dunklem Ton gehalten wie einsame Raumschiffe durch unendliche Weiten gleiten, kühle Frauengesichter mit von Sonnenbrillen bedeckten Augen. Rätselhaft ragt das Gesicht diagonal ins Bild, lässt aber nichts von der Person erkennen, die sich möglicherweise hinter der Brille verbirgt. Von Personen und Dingen zeigen sich immer nur kleine Ausschnitte eines Ganzen, das verborgen bleibt. Das ist einerseits schön, andererseits ziemlich unterkühlt gemalt.
Nur Andeutungen der Person, der Körper sind sichtbar. Nicht das Individuum interessiert den Maler, sondern die glatte Oberfläche des Fragments. In ihrer Perfektion ist die Malerei Dors verführerisch, zieht das Auge an, lässt es auf sein gemaltes Gegenüber schauen. Das aber bleibt grau, kühl und entrückt. Hautfarbe, warme Farbtöne vermeidet Dor.
In ihrer Glätte erinnern die Tafeln an Bilder der Werbefotografie. Auch dort: inszenierte Körper und Objekte. Bei der Reklame für die Strumpfhose, für den Lippenstift, für den Nagellack sind diese reduziert auf das notwendige Segment, um neugierig zu machen, auf das Produkt. Dor nutzt die gleichen Mittel der Verführung in seinen Bildern. So bestätigt er nicht zuletzt die unter Psychologen beliebte These, dass Kunst, Malerei und Musik ohnehin aus dem Balztanz geboren würden. Die Verführung durch das Kunstwerk sei lediglich eine Variante der erotischen Verführung, die sich verdinglicht habe.
Auf dieser Klaviatur spielt auch Dor. Und er spielt geschickt. Die kapitalistische Warenwelt mit ihrer unendlichen Ausdifferenzierung bietet eine Vielzahl von ästhetischen und visuellen Anknüpfungspunkten, die Dor nutzt. Wenn bunte Pinselschwünge, ins Riesenhafte vergrößert und akkurat gemalt, im Bild schweben, wenn poppige, rosarote Formen wie schwerelos im Raum driften, wenn Papageienfedern, halb verborgen unter geometrischen Formen erkennbar werden, zitiert Dor das Zeichenhafte, das sich auch in der Welt des Advertising findet. Aber die restlose Hingabe an die so konstruierten, lockenden, sinnhaften Zeichen der Dingwelt kann nur zu Einsamkeit und Verlassenheit führen. Der Schein der Warenwelt ist glitzernd und verführerisch, aber letztlich leer. Der Reiz des Konsumprodukts ist dann am stärksten, wenn es nahezu unerreichbar erscheint, der Zielpunkt des Verlangens ist und erst unter Anstrengungen erlangt werden muss. Schlenkert die Gucci Tasche am der Hand, ist der Mercedes geparkt oder im Stau blockiert, so vermögen nur noch hartnäckige Konsumfetischisten an den Reiz des dann banal gewordenen zu glauben.
Der so immer wieder reproduzierte Taumel, die Suche nach immer Neuem findet ihre Potenzierung im Digitalen. Wo früher der persönliche Kontakt zum Verkäufer, das Verkaufsgespräch, inhärenter Teil der Ware und dessen Erwerbs war, da verdrängt heute immer mehr der digitalisierte Bestellund Zustellvorgang das sinnstiftende persönliche Moment des Einkaufs. Shoppen macht nicht glücklich, sondern erhöht den eigenen Güterberg. Die Dekonstruktion sinnstiftender sozialer Zusammenhänge im Digitalen wirkt auf den Einzelnen. Die Halt gebenden Schranken sozialer Rituale kommen abhanden wenn immer mehr am Bildschirm eingekauft wird. Dies spiegelt sich in den Bildern Dors. Den Fragmenten der Körper, den Dingen fehlt jeder Bezug. Ähnlich wie sich die Dingwelt im Digitalen in Nullen und Einsen aufteilt, sind auch dargestellten Räume Dors zergliedert. Alles wird fluid, entzieht sich einer klaren Zuordnung oder Perspektive.
Darin erinnern die Bildräume an diejenigen der Kubisten. Der formale Bezug auf die verblichene Kunstrichtung ist kein Zufall. Als der Kubismus Formen zergliederte, Gesichter fragmentierte, Zeitungsfetzen als Collage in Bilder einfügte, da geriet die Welt aus den Angeln. Der erste Weltkrieg zeichnete sich als drohender Schemen am Horizont ab. Gesellschaften lösten sich auf, Revolutionen zeichneten sich ab. Auch gegenwärtig gerät die Welt ins Wanken. Flüchtlingsströme sprengen Grenzen, politische Linien verwischen, Parteilandschaften sind im Umbruch begriffen. Die politische Führungsmannschaft eines Kontinents versucht sich in Sinnstiftungsritualen. Der gesellschaftliche Wandlungsprozess ist unterlegt vom Wandel technischer Abläufe und Prozesse. Diese vollziehen sich mit einer Geschwindigkeit, dass einem schwindelt. Vermeintliche Transparenz von Entscheidungsprozessen entpuppt sich als Labyrinth widerstreitender Interessen und Einflussnahmen. Was sich unter der schön gestalteten Oberfläche von Public Relation gesteuerten Werbewirklichkeiten verbirgt, ist nur schwer auszumachen.
Auch in den Bildern Dors zeigen sich Splitter, zwischen denen sich Untiefen auftun, auch hier wirbeln Fetzen von Realität durcheinander. Damit unterscheiden sich seine Bilder von klassischen Stillleben, die zwar einen Raum eröffneten, aber diesen doch klar definierten. Das
Dunkel, aus dem die Früchte der Prunktstillleben des goldenen, holländischen Zeitalters leuchteten, barg keine Schrecken. Dors Bilder hingegen zeigen unauslotbare Tiefen. Sein „Stillleben mit Weintrauben“ zitiert die Tradition der Genremalerei indem es sich der Elemente, der Trauben, des Totenschädels, der Blüten bedient. Aber das Bild unterläuft das Genre, indem es gerade keinen klar strukturierten 3 Raum zeigt. Die abgebildeten Dinge werden in einem Schwarz positioniert, das an die Ferne des Weltalls, der Unendlichkeit gemahnt und von geometrischen Fragmenten gerahmt.
Ein weiterer Bezugspunkt lässt sich in der gegenwärtigen Malerei Dors ausmachen: Die Pop Art. Auch sie war an der Oberfläche der Dinge interessiert. James Rosenquist inszenierte die Dingwelt, zeigte Lippenstifte und Blumenblüten, Kühlerhauben und Spaghettigerichte. Dies allerdings zu einer Zeit, als der amerikanische Traum noch geträumt wurde, niemand von Guantanamo gehört hatte und die Flower Power Bewegung ein lautstarkes Gegengewicht zum Schrecken des Vietnam Krieges bot. Die Gesellschaft nicht nur in Amerika befand sich noch in einer prädigitalen Unschuld. Die allerdings ist nun hinüber. Damit sind auch Welterklärungsversuche gegenwärtiger Maler und Philosophen zum Scheitern verurteilt, was diese allerdings auch erkennen und sich erst gar nicht daran versuchen.transzendente Schwarz, aus dem die Gegenstände hervorzutreten oder darin hinab zu tauchen scheinen. Die überbordenden Sujets sind Metapher für Sehnsüchte und Träume auf der einen sowie Maßlosigkeit, Dekadenz und Scheitern auf der anderen Seite.
Durch diese Ambivalenz erhalten die Bilder eine starke und einzigartige Dynamik. Dor agiert im Spannungsfeld von Präsenz und Absenz, Chaos und Ordnung, Realität und Illusion. Das Ergebnis ist eine eigene virtuose Neuinterpretation des Genres Stillleben.
von Richard Rabensaat