Die Schönheit des Schrecklichen schimmert in den Bildern von Grigori Dor auf. Blumenstillleben, die auf den ersten Blick durch ihre Opulenz, das barock anmutende Arrangement der Blüten und die prächtige Farbigkeit beeindrucken, verführen den Betrachter.

Die Titel der Bilder konterkarieren den schönen Schein: „Breathtaking“ verbirgt einen Blumenstrauß in luftdichtem Plastik, aus dem „Eternal Gloss“ blickt ein Totenkopf dem Betrachter entgegen. Die Kombination und Vergrößerung von Einzelelementen schafft eine Spannung zwischen den einzelnen Motiven, die sich in Titeln wie „Violently Happy“ oder „Still Life with Funny Ear“ widerspiegelt.

Die Tiefenstrukturen unter den glatten Oberflächen der Bilder zeigen, dass es Dor nicht um die Demonstration seiner malerischen Brillanz geht, die schon immer ein Stilmerkmal der Vanitas-Stillleben war. Der Dialog mit Werken anderer Künstler des Genres, in dem das tote Insekt und die dahin welkende Blüte ein Zeichen für das Morbide und die Vergänglichkeit sind, ist offensichtlich. Das Vanitas-Stillleben, stets eine Bühne für die theatrale Inszenierung unterschwelligen Horrors, lockt auch bei Dor mit detailgespickter Kulisse, präzise geschilderter Flora und subtilen Spannungen, die erst der Blick aufs Einzelelement offenbart. Dor gelingt die Transformation des traditionsreichen Genres in eine zeitgemäße Formensprache, die sich dennoch ihres historischen Hintergrundes bewusst ist.
Der schwarze Hintergrund der Szenerie betont die Blume als Bildelement in altmeisterlicher Weise. Mit der Darstellung der grotesk vergrößerten Einzelblüte knüpft Dor jedoch einen Bezug zu fotorealistischen Abbildungsformen, wie sie sich erst in den vergangenen 70er Jahren etabliert haben.

Mit einer zurückhaltenden Farbigkeit, die eher im Dunkeln leuchtet, unterscheidet sich der in Russland geborene Künstler deutlich von der knallbunten, poppigen Attitüde amerikanischer Fotorealisten. Die Betonung der Oberflächenstruktur des isolierten Objektes, der feinen Haptik der Blütenblätter und des Schimmers auf Zierbändern zieht dennoch eine Verbindungslinie zu Fotorealisten vom Schlage eines Don Eddi oder Ben Schonzeit.

Die collagierende Montagetechnik der zweiten Bilderserie greift ein Konstruktionsprinzip auf, mit dem schon der Amerikaner James Rosenquist experimentierte. Dor zitiert die Ästhetik von Hochglanzmagazinen und PR Broschüren und dekonstruiert sie. Die sehnsuchtsvollen Träume von einem Leben mit unbeschwerter Schönheit und immer währendem Begehren, wie sie in Modemagazinen zelebriert werden, unterzieht Dor der „Archäologie“ ihrer Einzelteile.

Der abgerissene Papierfetzen eines Fotos von einem Ohr kann unschwer als Hinweis auf die Fragilität des menschlichen Körpers und seiner Bedrohung gewertet werden. Schmetterlinge gelten in der entsprechenden Genremalerei allgemein als Symbole flatterhafter Seelenlandschaften. Aber der Maler spielt nicht nur mit verschiedenen Bedeutungsebenen. Er reizt die unterschiedliche Haptik der dargestellten Bildelemente aus. Das Bild eines Wollpullis kontrastiert Dor mit gedruckter Schrift und kombiniert dazu das Foto eines Auges. Der Titel des Bildes lautet treffend und doppeldeutig „Eyecatcher“. Auch das Auge des Betrachters ist gefangen von dem geschickten Spiel mit Wortelementen und angedeuteten Bildbezügen.

Das Auge ist ein wiederkehrendes Element der Bilderserie, das dem Betrachter meist isoliert auf ausgerissenen Fetzen oder fast versteckt hinter Blumenmustern anblickt. Dor stellt so erneut einen Bezug zu einem Motiv her, das einen Dialog mit einer langen Kette von bildlichen Darstellungen eröffnet. Nicht erst seit Dalis Schnitt mit dem Rasiermesser durch den Augapfel war in der bildenden Kunst klar, dass es sich bei dem menschlichen Auge nicht nur um das für die Bildwahrnehmung zentrale menschliche Organ handelt. Der Blick himmelwärts auf die höheren Mächte ist ein konstantes Motiv mittelalterlicher und neuzeitlicher Malerei. Die Surrealisten nahmen diese Symbolik ebenso auf wie der fantastische Realismus. Auf Grigori Dors Bild „Blue Sky“ schließlich blickt das Gesicht auf dem ausgerissenen Papierfetzen ebenfalls möglicherweise in den blauen Himmel. Gerade die Unbestimmtheit des Szenarios, die Isolierung eines Teil des Antlitzes und die Andeutung, in der das Dargestellte in der Schwebe bleibt, sind die Elemente, aus denen der besondere Reiz des Bildes erwächst.

Im Gegensatz zu vielen aktuellen Malern gegenständlicher Szenerien erzählt Dor keine Geschichten, sondern spielt mit der Präsenz und dem Verschwinden von Figuren und Dingen. Zeichen, Bedeutungsinhalte, das unvermittelte Auftauchen eines Einzelelements und die Andeutung des komplexen Gesamtmotivs über den einzeln angerissenen Ausschnitt hinaus sind die Varianten, die den Künstler interessieren. So entsteht letztlich aus den einzelnen Elementen der Stillleben das Bild einer Welt, die aus zerbrochenen Teilen besteht und dennoch durch einen umfassenden Rahmen zusammengehalten im Dunklen leuchtet.

Dr. Alexandra Rosenthal