Malerei von Grigori Dor (english version below)

In seinen rätselhaften, surrealen Collage-Bildern verbindet Grigori Dor die chaotische Bildwelt der Gegenwart mit uralten Vorstellungen von Apokalypse und Vergänglichkeit. Er durchforstet Hochglanzmagazine und das Internet, bedient sich bei Instagram, Pinterest & Co und arrangiert die gefundenen Fragmente mithilfe von Photoshop zu Untergangsvisionen und barocken Vanitas-Bildern.

Grundlage und Ausgangspunkt dieser verstörenden Bildwelt ist die Idee von Schönheit, die Vorstellung einer perfekten Welt voller Harmonie. Evoziert wird dieses Ideal durch makellose Gesichter, exotische Orchideen, prachtvolle Tulpen, saftige Kirschen, golden und silbern glänzendes Metall, expressive Farbschwünge, elegante Stabkonstruktionen, romantische Landschaften, Sonnenuntergänge und vieles mehr. Doch all diesen Schönheiten muss ein Aber folgen. In Dors Bildern ist eben nichts vollkommen, alles ist zerrissen, fragmentiert. Hier ist die Idee von Schönheit und Harmonie nur noch Erinnerung.

Die altmeisterlicher Feinmalerei, präzise bis ins kleinste Detail, steht im Widerspruch zum unklaren Sinn des Geschehens. Es sind immer nur Teile, die wir sehen, nie das Ganze. Es ist eine Welt, deren Mitte verloren ist. Die Fülle, die Opulenz der Zeichen überdeckt, dass kein wirklicher Inhalt vorhanden, dass alles nur oberflächlicher Schein ist, eine Welt der Kulisse.

In tiefen ortlosen Räumen herrschen Wirrwarr und Chaos, ein scheinbar willkürliches Durcheinander von Bildschnipseln und Farbflächen. Zu den Fragmenten von menschlichen Gesichtern gesellen sich Käfer und Vögel, Schnüre und Kabel, metallisch-technisches Gerät, und, nicht zuletzt, kräftige Pinselstriche. Es ist eine zerfallene, zerfallende Welt des Schreckens, voller dunkler oder glühend drohender Farben. Alles ist in Bewegung, scheint wie in einer Explosion auseinanderzufliegen. Gleichzeitig liegt tiefe Ruhe über der Szenerie, wie wenn ein Raumschiff mit vielfacher Überschallgeschwindigkeit tonlos durch das All rast.

Der Mensch ist in diesen Bildern niemals real und niemals vollständig vorhanden. Er erscheint immer nur als Bildfragment, meist als Auge, ein Ausriss aus Magazinen oder Fotos. Der Betrachter assoziiert unwillkürlich die surreale Szene aus Bunuels Film Un chien andalou, in der ein Rasiermesser das Auge einer Frau durchschneidet. Ein Landscape with Sunset ist alles andere als das Bild eines stimmungsvollen Sonnenuntergangs in idyllischer Landschaft – es ist eine Katastrophenszenerie.

In anderen Bildern drohen vereiste Gebirge, oder die Settings ähneln Mondlandschaften. Ein blutroter „Himmel“ scheint eine Feuersbrunst wiederzugeben. Ein treffendes Sinnbild für diese lebensfeindlichen Situationen ist die in eisiger Landschaft blühende Orchidee, deren Stengel aus einer kühlen Metallkonstruktion besteht.

Die altmeisterliche Pinselarbeit und viele Themen evozieren die Geschichte und Kunstgeschichte. Wie in den Vanitas-Stillleben des Barock lauert neben der Schönheit einer Perle und der Fülle prachtvoller Blumen und opulent gedeckter Tische der Verfall, das Zerbrechen, der Tod. Ein Symbol dafür sind die Glaskugeln, die in ihrer perfekten Form vollkommene Harmonie symbolisieren, doch leicht zerbrechen. Und prachtvoll-rote Kirschen verwandeln sich in die Äpfel der Hesperiden, die ewige Jungend versprechen.

Mehr noch evozieren diese Gemälde die Ästhetik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, mit ihrer Ruinenromantik und ihrer Lust an der Katastrophe, der Schönheit des Schreckens. Man zog ästhetischen Genuss aus dem Verfall von einst großartigen Bauten, aus dem Sieg der wuchernden Natur über menschliche Bestrebungen. Den Kunstfreunden, allen voran Johann Joachim Winckelmann, erschien der Torso einer antiken Skulptur vollkommener als das unbeschädigte Werk.

Es war der schottische Philosoph Edmund Burke, der den Begriff des Erhabenen, des Sublimen vom Schönen trennte und das Düstere, Unheimliche, Fantastische und Groteske in die Ästhetik einbezog. Nur diese Art von Dingen, meinte er, könnten die gemischte und zugleich stärkste Empfindung des angenehmen Schreckens, Delightful Horror genannt, im Betrachter hervorrufen. Man denke hier etwa an William Turners Gemälde vom Untergang Karthagos oder die apokalyptischen Visionen seines Zeitgenossen John Martin.

Allerdings sind unsere heutigen Erfahrungen des „Schreckens“, die täglichen frei Haus via TV gelieferten Katastrophen aus aller Welt, weniger romantisch: Neben dem Inferno der Natur, den Vulkanausbrüchen und Tsunamis, steht das menschengemachte Elend, Kriege und Flüchtlingsdramen. Die Bilder solcher Ereignisse erlauben kein Versinken in romantischer Träumerei. Folglich sind die Gemälde von Grigori Dor sehr matter-of-fact, eine sachliche Zustandsbeschreibung.

Die künstlerische Technik der Collage nimmt im Werk Grigori Dors eine zentrale Rolle ein. Rückblickend sehen wir, dass bei den Kubisten die Collage das Ende des linearen Weltbildes bedeutete, bei den Surrealisten die Auflösung der Rationalität. Mit den Prinzipien des Fragmentarischen, des Nicht-Linearen, Traumhaften, Vieldeutigen, Assoziativen und Un-Sinnigen knüpft Dor an beide Vorbilder an. Das führt uns zu einem wesentlichen Inhalt dieser Malerei: nämlich die Kunst selbst.

Darauf deutet vieles hin: von den Spritzern und Farbschwüngen, die sich sich selbständig machen und als Objekte durch den Bildraum sausen, über den altmeisterlichen Charakter der Malerei, bis hin zu den vielen Verweise in die Kunstgeschichte. Da ist etwa die in den Bildtiteln aufgerufene Nähe zu traditionellen Bildthemen wie Landschaft, Stillleben und Porträt, oder die Verbindung mit Allegorie und Exotik.

Dors Kunst ist mit der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts ebenso verbunden wie mit Pop Art und Fotorealismus. Und er thematisiert die alten stilistischen Gegensätze von malerisch-konstruktiv und figurativ-abstrakt. Die digitale Gegenwart wird eher nebenbei behandelt, etwa wenn ein „Like“-Button auftaucht oder ein „Red Light“ als eine gepixelte Farbfläche daherkommt.

Wie eingangs gesagt: Das Werk Grigori Dors kreist um die Idee von Schönheit. Sie ist zerfallen, das sagen die Bilder in aller Deutlichkeit. Sie ist degeneriert und zerbrochen in einem Geschehen, das die Antike als Apokaplypse bezeichnete, das heute auf der Bilderflut der Massenmedien, des Internet und den Möglichkeiten digitaler Technik beruht. Und doch: In jedem Fragment ist die Idee von Schönheit bewahrt. Und hat nicht die Antike auf die Furcht vor der Apokalypse mit der Hoffnung auf ein Goldenes Zeitalter geantwortet?

 

Ernst A. Busche

 

Painting of Grigori Dor

In his enigmatic, surreal collage paintings, Grigori Dor combines the chaotic imagery of the present with ancient notions of apocalypse and decay. He scours glossy magazines and the internet and arranges the found fragments into visions of doom and baroque vanitas images. However, the basis and starting point of this disturbing pictorial cosmos is the idea of beauty, the notion of a perfect world full of harmony.

This ideal is evoked by flawless faces, exotic orchids, magnificent tulips, juicy cherries, shiny gold and silver metal, expressive color swings, elegant rod constructions, romantic landscapes, sunsets and much more. Yet all these beauties must be followed by a „however“. In Dor’s paintings nothing is perfect, everything is torn apart, fragmented. Here the idea of beauty and harmony is just a memory.

The old-masterly fine painting, precise down to the smallest detail, contradicts the unclear meaning of the events. It is always only parts that we see, never the whole. This is a world whose center is lost. The abundance, the opulence of the imagery covers up that there is no real content, that everything is only superficial appearance, a world of scenery.

In deep, placeless spaces, confusion and chaos reign, a seemingly arbitrary jumble of picture snippets and color surfaces. The fragments of human faces are joined by beetles and birds, cords and cables, metallic-technical equipment, and, last but not least, vigorous brushstrokes. It is a decaying, crumbling world of horror, full of dark or glowing threatening colors. Everything is in motion, seems to fly apart as in an explosion. At the same time, deep silence lies over the scenery, like a spaceship racing soundlessly through space at multiple supersonic speeds.

Human beings are never real and never completely present in these pictures. They always appear only as a fragment of a picture, usually as an eye, a tear-out from magazines or photos. The viewer involuntarily associates the surreal scene from Buñuel’s film Un chien andalou, in which a razor cuts through a woman’s eye. A Landscape with Sunset is anything but the image of an atmospheric sundown in an idyllic landscape – it is a disaster scene.

In other pictures, icy mountains threaten, or the settings resemble moonscapes. A blood-red „sky“ seems to reflect a blazing fire. An apt symbol for these hostile situations is the orchid blooming in an icy landscape, whose stem consists of a cool metal construction.

The old masters brush work and many topics evoke history and art history. As in the vanitas still lifes of the baroque era, decay, shattering and death lurk next to the beauty of a pearl and the abundance of magnificent flowers and opulently laid tables. A symbol of this are the glass spheres, which in their perfect form symbolize total harmony, yet break easily. And splendid red cherries turn into the apples of the Hesperides, promising eternal youth.

Even more, these paintings evoke the aesthetics of the 18th and early 19th centuries, with their romanticism of ruins and their delight in catastrophe, the beauty of horror. One drew aesthetic pleasure from the decay of once magnificent buildings, from the victory of rampant nature over human endeavors. To art lovers, foremost Johann Joachim Winckelmann, the torso of an ancient sculpture seemed more perfect than the undamaged work.

It was the Scottish philosopher Edmund Burke who separated the concept of the sublime from the beautiful and incorporated the dark, the uncanny, the fantastic and the grotesque into the aesthetics. Only these kinds of expression, he argued, could evoke in the viewer the mixed and at the same time strongest sensation of the „delightful horror“, as he termed it. One might think of William Turner’s paintings of the fall of Carthage or the apocalyptic visions of his contemporary John Martin.

The artistic technique of collage plays a central role in the work of Grigori Dor. Looking back, we see that with the Cubists, collage meant the end of the linear world view, with the Surrealists the dissolution of rationality. With the principles of the fragmentary, the non-linear, the dreamlike, the ambiguous, the associative and the non-sensical, Dor ties in with both models. This leads us to an essential content of his paintings: art itself.

There are many indications of this: from the splashes and swings of color that become independent and rush through the pictorial space as an object, to the old-masterly character of painting, to the many references in the history of art. There is, for example, the proximity to traditional pictorial themes such as landscape, still life and portrait, which is invoked in the picture titles, or the connection with allegory and exoticism.

Dor’s art is connected with the painting of the 18th and 19th centuries as well as with Pop Art and Photorealism. And he addresses the old stylistic contrasts of painterly-linear and figurative-abstract. The digital presence is treated rather incidentally, for example when a „Like“ button pops up or a Red Light appears as a pixelated color patch.

As mentioned at the beginning: Grigori Dor’s work evolves around the idea of beauty – which has fallen apart, the pictures say so very clearly. It has degenerated and broken up in an event that antiquity called apocalypse, which today is based on the flood of images of the mass media, the Internet and the possibilities of digital technology. And yet: the idea of beauty is preserved in every fragment. And did not the ancient world respond to the fear of the Apocalypse with the hope for a Golden Age?

 

Ernst A. Busche